Spricht man über türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union, dann im Schatten eines Ungeheuers „fanatischer Islam“. Reduziert man dagegen die türkische Identität und ihre „Mission“ auf den gänzlich „anderen“ Islam, sprich: den säkularisierten, „moderaten“ und „toleranten“ Islam, so reproduziert man nichts anderes als das selbe Klischee – nur von der anderen Seite betrachtet. Darum sollten wir, bevor wir weitersprechen, als erstes die Essentialisierung der Kultur als vorpolitische Struktur dieses Klischees beiseite legen. Denn diese Struktur ist für politische Diskussionen und Initiativen untauglich.
„Wenn du mich fragst, es ist nicht der Islam, der - wie allgemein angenommen - die türkischen Werte im Vergleich mit den europäischen so befremdlich macht. Es ist der Nationalismus“, sagte mir neulich ein deutscher Bekannter. Er lebt schon lange in der Türkei und hat seine Distanz gegenüber solchen Essentialisierungen bewahrt.
Tatsächlich scheint bei näherer Betrachtung der Nationalismus derjenige sozial-politische Charakterzug der Türkei zu sein, die sie aus europäischer Sicht am „befremdlichsten“, ja „unheimlich“ macht. Schon in einem früheren Essay bezeichnete ich diesen Nationalismus als den "Fundamentalismus der Türkei":
„Der Fundamentalismus der Türkei ist ein Nationalismus, der auf ständiger Existenzangst und der unaufhörlichen Empfindung einer Bedrohung beruht. Das autoritäre Selbstverständnis des Staates speist sich aus diesem Seelenzustand –gemäß des jeweiligen politischen ‚Auftrags’. Dieses Selbstverständnis des Staates ist aber für die Definition einer Nation aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft untauglich. Denn selbst wenn die ‚offizielle’ Definition eine solche Auffassung von ‚politisch konstruierter Nation’ zulässt, bleibt die stillschweigende Übereinkunft ethno-kultureller Zugehörigkeit und Treue weiter gültig. Diese fundamentalistische Ideologie verpflichtet zur Treue und testet sie ohne Unterlass.
Das Sèvres-Syndrom, das die Angst der Türken vor der Zerstörung ihres Staates begründet, heißt nach dem Vertrag von Sèvres, der die Aufteilung des Osmanischen Reiches regelte und eine kleine Resttürkei vorgesehen hatte. Es hat seine Wurzeln in den Vortagen der Republik, also bereits in der Phase des Niederganges des Osmanischen Reichs. Aber auch in der Atmosphäre des Kalten Krieges, als man die „höchst sensible geopolitische Lage“ des Landes zum Notstandsprinzip erhob, wurde die Angst vor Einkreisung und Bedrohung reproduziert. Diese fast obsessive Haltung, die ständig Verschwörungen der Nachbarstaaten und der westlichen Mächte wittert, bildet das Rückgrat des türkischen Nationalismus. Dieses Syndrom war in den vergangenen zwanzig Jahren gerade in Bezug auf die kurdische Frage quicklebendig.
Auch wenn ich den Begriff „Toleranz“ vermeiden möchte, der dem Tolerierenden eine gehobene, übergeordnete Stellung einräumt: Das größte Hindernis in der Türkei für die Verbreitung einer demokratischen und emphatischen Weltsicht, die der Vielfalt offen gegenüber steht, ist die beschriebene nationalistisch geprägte geistige Atmosphäre. Ich spreche von einer geistigen Atmosphäre, denn ich meine eine „Geistesfinsternis“, die nicht nur Inhalte dringender, wichtiger politischer Probleme, sondern auch nationalistische Worthülsen, Vorstellungsmuster, Symbole und Heldenepen prägt.
In der europäischen Geschichte sorgte die Säkularisierung für die Trennung des Staates und der Öffentlichkeit von der Kirche. Heute gibt es Politologen, die die Trennung der Begriffe „Staat“ und „Staatsbürgerschaft“ von „Nation“ und „Nationalismus“ als die „zweite historische Säkularisierungswelle“ bezeichnen. Auch in der Europäischen Union läuft ein solcher Prozess ab. Natürlich verläuft er nicht linear und ist nicht frei von Schmerz und Konflikten. Aber besonders für die Türkei stellt diese zweite Säkularisierungsphase eine besonders große Herausforderung dar.
Werfen wir nun einen Blick in die tieferen Schichten der Ideologien; beschäftigen wir uns ein wenig damit, wie sich in der Türkei der „kleine Mann“ im Sinne von Wilhelm Reich das „Europäer sein“ und die „europäischen Werte“ vorstellt.
„Europäische Werte“ bedeuten: Alles ist standardisiert. Das mag man für „nützlich“ halten, aber hin und wieder ahnt man auch, dass Standardisierung einer der Werte ist, die „Europa“ zugrunde liegen. Um ehrlich zu sein, manchmal findet man es auch ein bisschen unlogisch, stur und übertrieben; diese fast fromme Bindung an Regeln, dieser Pünktlichkeitsfanatismus. Regeln legen die Distanz zwischen Privaten und Öffentlichen Leben fest, zwischen Arbeit und Freizeit, Kollegentum und Freundschaft. Man ahnt durchaus, dass das„zweckmäßig“ sein soll, empfindet es aber als „kalt“. Ganz abgesehen davon ,dass die Justierung dieser unterschiedlichen Distanzen recht mühevoll ist.
„Europäische Werte“ bedeuten, „Achtung vor dem Menschen“ zu haben; gleichzeitig aber sortiert man konkrete menschliche Situationen in kalte Kategorien des bürokratischen Apparats ein – und seitdem der Sozialstaat ausgehöhlt ist, steckt man sie in die kalten Kategorien des Markts.
Europa bedeutet: auch moralischen Verfall ... Europa bedeutet natürlich, und vielleicht vor allem, Wohlstand! In der Türkei, wo Armut sich ausbreitet und die Einkommensverteilung ungeheuer ungleichmäßig geworden ist, klingt die EU nach „Geld aus Europa“, nach Wohlstand. ... Auf der anderen Seite nährt „Europa“ die Sorge, dass das wirtschaftliche Klima noch rauher werden könnte. Dass der Spielraum für wirtschaftliche Entscheidungen und Initiativen, die der IWF ohnehin sehr eingeengt hat, noch enger werden könnte. ...
"Sie lassen uns nicht in die EU ", ist eine Klage, die in den vergangenen Jahren im alltäglichen Sprachgebrauch immer wieder anklingt. Sie ist der populärste Ausdruck eines Nationalpessimismus und der vorauseilenden Enttäuschung: Manchmal zielt sie auf die vorurteilsgeladene, diskriminierende Haltung Europas, manchmal wird sie zur Selbstkritik der schlechten Regierung, der es nicht gelingt, "europafähig" zu werden und der sozialen Rückständigkeit ("Aus uns wird eh nix!"). Manchmal drückt diese Klage beides gleichzeitig aus und manchmal eine verwirrte Empfindung, die irgendwo zwischen den beiden Polen liegt ... Das Bild des Westens im türkischen Nationalverstand ist genau so wirr wie diese Empfindung!
Die Türkei im EU-Prozess steht vor einem großen Widerspruch, der zeitgleich mit dem Anfang des Abenteuers Modernisierung begann und einen Komplex gegenüber dem Westen verursacht.. Einerseits lautet das nationale Motto der Türkei: Modernisierung, was ungefähr gleichbedeutend mit „Verwestlichung“ ist. Andererseits wecken die Begriffe „Westen“ und „Verwestlichung“ die Sorge um die Degeneration der nationalen Identität und der Entfremdung. Das Bild des Westens in den Augen des türkischen Nationalismus pendelt zwischen Ressentiment und Neid. Vor allem, wenn wir die populären, alltäglichen Erscheinungsformen des Nationalismus, oder, mit Michael Billig gesprochen, den "Banalnationalismus" betrachten.
Die massenhaften Extase, die ausbricht, wenn eine türkische Sängerin im Eurovision-Musikwettbewerb – mit einem Lied auf Englisch! – gewinnt ... oder wenn türkische Fußballmannschaften große internationale Erfolge feiern, sind ein Zeichen dafür, dass es keine größere Genugtuung gibt, als sich mit dem Westen zu messen, auf westlichen Plattformen nach westlichen Maßstäben "siegreich" zu sein.
Seit ungefähr zehn Jahren kommt in den neuen, städtischen, modernen Erscheinungsformen ein weiteres Motiv für den Nationalismus hinzu: West-ähnlich zu sein, gilt als höchster Maßstab für den Nationalstolz. Wirtschaftliche Erfolge sind davon nicht ausgenommen: Die Bluejeansmarke Mavi (zu deutsch: Blau) hob in ihrer Werbekampagne in der Türkei den Marketingerfolg hervor, den sie in den USA hatte. Damit betonte sie die schmeichelhafte Fähigkeit, eine westliche Erfindung qualitativ besser und erfolgreicher als der Westen umzusetzen.
Es gibt eine liberale nationalistische Strömung in der Türkei, die dem EU-Prozess optimistisch gegenübersteht und die Erfolge und Leistungen einer solchen Modernisierung betont. Eine Art Pop-Nationalismus, wie ihn die städtische Mittel- und Oberschicht pflegt, die bezogen auf ihr Einkommensniveau, ihre Konsum- und Freizeitmuster und ihre kulturellen Interessen „europäisiert“ ist. Sie werden, um den in den vergangenen Jahren gebräuchlich gewordenen Begriff zu benutzen, „Weißtürken“ genannt.
Der EU-Integrationsprozess ist aber in der Türkei auch Motor für eine Form des reaktionären Nationalismus. Die Anpassung der türkischen Gesetze an das Gemeinschaftsrecht haben in erster Linie das Sèvres-Syndrom aktiviert, von dem ich anfangs gesprochen habe. Aus der Sicht der Nationalisten sind die erforderlichen Schritte zur Integration in die EU eine neue Form der Kapitulationen, die dem Osmanischen Reich schon während des ersten Anlaufs der Modernisierung aufgezwungen wurden. Die Nationalisten fühlen sich dabei auch an die imperialistische Politik der Aufteilung des Landes durch die Westmächte in den Vortagen und während des Ersten Weltkriegs erinnert. Man scheut den offenen Blick auf die Massaker an den Armeniern, deren politische Verantwortung die damals regierende Partei für Einheit und Fortschritt trug. Wenn wir bedenken, dass nicht nur dieses Thema, sondern auch das „Kurdenproblem“, das ja der jüngsten Vergangenheit angehört, „auf Eis gelegt“ wurde, ohne dass man sich wirklich mit dem Problem selbst auseinandergesetzt hätte ... dass ferner das Trauma des Militärputschs vom 12. September 1980 und des darauffolgenden Regimes „begraben“ wurde ... dann sehen wir, dass die Problematik eines offenen Blickes auf die unbewältigte Vergangenheit ein wichtiges Kapitel der Demokratisierung in der Türkei ausmacht.
Die Sorge um den Verfall und die Entfremdung der nationalen Werte finden ihre wohl am meisten provozierende Hassfigur in den türkischen Befürwortern einer EU-Mitgliedschaft. Das sind Liberale und Linksliberale, westorientierte Intellektuelle und städtische, gut ausgebildete Mittel- und Oberschichten, die modernen Sektoren des Kapitals, die großen Medien ... mit anderen Worten: die vorhin angesprochenen Weißtürken. Teile dieser Kreise leiden tatsächlich an nervendem Elitismus und Klassenarroganz. Doch der Anti-Elitismus, den die Nationalisten gegen jene ins Feld führen, hat einen anti-intellektuellen, faschistoiden Charakter, der auch vor Antisemitismus nicht Halt macht. Als wolle man das Schema umsetzen, das der "Zivilisationenkämpfer" Samuel Huntington in seinem letzten Buch "Who are we? / Wer sind wir?" entworfen hat, in dem er die Amerikaner auffordert, sich wieder auf ihre anglo-protestantische nationale Identität zu besinnen: Auf der einen Seite die hedonistische, kosmopolitische Elite, die sich von nationalen Empfindungen gelöst hat – auf der anderen Seite ein gesunder, völkischer Essentialismus!
So werden EU-Befürworter als „Kollaborateure“ gebrandmarkt, die „ihre Seele an den Westen verkauft haben“. Ein Beispiel dafür lieferten die an Lynchjustiz erinnernden Reaktionen, die der Meisterromancier Orhan Pamuk erntete, als er – mit Formulierungen, die man vielleicht als etwas salopp bezeichnen könnte – über die Massaker an Armeniern und Kurden sprach. Pamuk wurde beschuldigt, die Türkei angeschwärzt zu haben, um dem Westen zu gefallen und den Nobelpreis „zu ergattern “. Ganz zu schweigen von den Todesdrohungen, die er erhielt!
„Die Türkei vor Ausländern zu verleumden“ - das ist eine ganz außerordentliche Nationalsünde! Diese Auffassung von Nationalstolz kann es nicht ertragen, wenn die Türkei im Westen durch die Bilder ärmlicher Vorstädte, von Frauen mit Kopftüchern oder anderen unmodernen Erscheinungen „repräsentiert wird“. Diese Haltung deutet auf das schwieriges Spannungsverhältnis hin, das zwischen dem xenophobischen Zug des türkischen Nationalismus und der ungeheuer großen Bedeutung, die man dem Türkeibild im Westen beimisst, besteht.
Diese Spannungsverhältnis zeigt sich auch im Umgang mit den Ereignissen am 6. März, als die Polizei auf die Demonstrantinnen am Weltfrauentag einprügelte. Nach dem Vorfall, bei dem die Polizei gegenüber Demonstranten, die als „illegal-separatistisch“ und „linksextremistisch“ bezeichnet wurden, eine „unverhältnismäßige Härte“ an den Tag legte, beschuldigten die Verantwortlichen die Medien. Sie hätten durch die Veröffentlichung und Ausstrahlung dieser Bilder die „Türkei bei den Europäern denunziert“. Ein anderes Argument bestand darin, unermüdlich auf die doppelten Standards Europas hinzuweisen: So beklagte sich der Ministerpräsident darüber, dass die europäischen Medien und die Institutionen der EU die Polizeigewalt in Europa nicht mit dem gleichen kritischen Interesse verfolgen würden.
Wenn „einer von uns“ sich scheinbar gegen die Türkei äußert, wird reflexartig die Frage gestellt: „Gibt es das denn nicht auch im Westen?“ Dieses „Konter-Gedächtnis“ reicht vom Faschismus in Europa bis zur Ausrottung der Indianer in Amerika und bis hin zum „angeblichen Selbstmord“ von RAF-Mitgliedern in Stammheim.
Ist die Türkei der Prügelknabe? Versucht man sie etwa aus anderen, aus „kulturellen“ Gründen außerhalb oder am Rande der EU zu halten? Deutet all diese Kritik auf einen verdeckten Veto-Mechanismus hin? Wird etwas, was „Allen“, was jedem anderen Land erlaubt ist, nämlich Nationalismus und die Logik der „nationalen Interessen“, nur der Türkei vorenthalten? Das sind Fragen, die von den Nationalisten in der Türkei - auch von den „rational“, besonnen und gemäßigt Denkenden unter ihnen - gestellt werden.
Mir fällt jetzt eine Ironie ein, auf die mich ein anderer deutscher Freund mit guten Kenntnissen über die Türkei aufmerksam gemacht hat: Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 hat die europäische Rechte jahrelang den Diskurs des Kalten Krieges aufrecht erhalten und die These verteidigt, in der Türkei herrsche „ausreichend“ Demokratie. Die europäische Linke solidarisierte sich damals mit den Verteidigern der Menschenrechte und wies auf die Demokratie-Defizite hin. Heute jedoch zählen europäische Konservative zu den engagiertesten Beobachtern der andauernden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Die Linken und Grünen dagegen pflegen und verteidigen ihren Optimismus, Demokratie und Menschenrechte in der Türkei würde sich immer weiter verbessern!
Was soll man sagen? Auch der Ausdruck „Realpolitik“ hat europäische Wurzeln - und ist ohne Zweifel sozusagen ein Wert! Oder ist das etwa der Wert, der die größte Gültigkeit hat, der am „wahrsten“ ist?
Um den Nationalismus zu überwinden, um wirklich supranational zu denken, um in der Wertediskussion nicht in essentialistischen Schemata und vorpolitischen Konstanten gefangen zu bleiben, muss man über die Türkei im Zusammenhang mit der europäischen Innenpolitik bzw. der „Weltinnenpolitik“ sprechen.
Folgenden sensiblen Punkt sollte man sich - und anderen - immer wieder in Erinnerung rufen: Es gibt nicht „ein“ oder „das“ Europa! Man muss sich Europa als einen Prozess und als Fundament vorstellen. Und genauso: Es gibt nicht „eine“ oder „die“ Türkei! Die Türkei steht für eine äußerst komplexe Gesellschaft: Mit ihrer rasanten Modernisierung, mit der neoliberalen Durchkapitalisierung ihrer gesellschaftlichen Strukturen, mit den dadurch bedingten gewaltigen Wertekonflikten und ihrem Wertewandel.
In der Diskussion um Identität und Werte ist Europa gut trainiert! Wie die verschiedenen Gesichter Europas, die verschiedenen „Europas“, miteinander verbunden sind, wie sie voneinander unterschieden werden können, wird seit Jahren ausführlich diskutiert. Diese Diskussion wird auch nie zu Ende gehen. Und das gilt nicht nur für Europa, sondern für jeden Ort der Welt. Es gilt für alle Menschen, die versuchen, sich zu einer Gesellschaft zu formieren. Man formiert sich nämlich nicht zu einer Gesellschaft, indem man damit anfängt, es in einem Zug durchführt und dann sagt, jetzt ist der Bau fertig! Eine Wertediskussion und -produktion, die nicht wertkonservativ sein will, muss dieser Herausforderung gewachsen sein.
Die Türkei wird in mancher Hinsicht als eher europäisch betrachtet, in anderer Hinsicht wieder nicht. Das hat mit den unterschiedlichen Wertvorstellungen zu tun, die man mit Europa verbindet. Die Türkei gilt als europafähig, wenn es um das wirtschaftliche Europa, um das Europa des Kapitals oder um das militärische Europa geht. Aus dem Blickwinkel des UEFA-Mitglieds natürlich auch für das Europa des Fußballs. (Würde man die Türken aus letzteren aussperren, könnte das zu einem Volksaufstand führen!) Das gilt jedoch nicht für das „politische“ Europa ... Aber gestalten sich diese Unterscheidungen, ihre Kongruenzen und Inkongruenzen völlig unabhängig von der Wertediskussion? Basieren sie auf konsequenten Wertvorstellungen? Eigentlich stellt sich hier noch einmal die gleiche Frage: Ist der grundlegendste europäische Wert „letzten Endes“ die Realpolitik?
Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt ist meiner Meinung nach folgender: Formen des Nationalismus in der Türkei oder in nicht-westlichen geografischen Gebieten, die altmodisch, ja durchaus exotisch erscheinen können, dürfen ihre neuen, modernen oder postmodernen Formen in Europa nicht ausblenden.
Mir liegt nichts an einem nationalistischen Wettlauf um das Vorstrafenregister mittels einer Diskussion über die Wurzeln des Nationalismus und des Rassismus in der europäischen Geschichte. Ich denke auch nicht in erster Linie an „rechtsextreme“ Gruppen, Neofaschisten oder Neonazis und an die nicht gering zu schätzende Wegstrecke, die sie auf dem Weg zur Salonfähigkeit zurück gelegt haben.
Das eigentlich Beachtenswerte ist der raffinierte Rassismus, den die europäische Rechte seit den achtziger Jahren entwickelt hat, nämlich der vornehme Rassismus im kulturellen Differentialismus. Jene arrogante Toleranz gegenüber dem Andersartigen - solange es da bleibt, wo es ist, solange es sich nicht mit "uns" vermischt.
Es ist kein Geheimnis, dass diese Neigung sich sehr wohl mit Wohlstandchauvinismus und der Idylle einer „Festung Europa“ zur Abwehr der Migration verträgt.
Kommen wir wieder auf die gesellschaftliche Komplexität zurück. Es geht nicht darum, „europäische“ Nationalismen (sowohl uralte als auch postmoderne) bzw. einen EU-Makro-Nationalismus und den türkischen Nationalismus einander gegenüber zu stellen. Nationalistische Denkschemata zeigen sich in ihren raffinierten und primitiven Versionen sowohl hier als auch dort. Die Argumente der Islamisten, die den Westen als einen „christlichen Club“ betrachten, decken sich hervorragend mit denen der Christdemokraten, für die die Türkei „vom Wesen her“ anders ist. Die Beweggründe der Vertreter der Lega-Nord in Italien und jener, die mit ihrer Istanbul-zentrierten Türkei bei der EU „Zuflucht“ suchen und sich von dem Rest „befreien“ wollen, ähneln sich sehr. Und: es gibt eine große Nähe zwischen denen, die sich Europa als Keimzelle eines Kant'schen „Weltstaats“ vorstellen, deswegen eine ethnokulturelle „Essenz“ für Europa ablehnen und seine Vielfältigkeit einfordern und manchen Befürwortern der EU in der Türkei.
Darum geht es und um nichts anderes: Sich die Türkei und Europa zusammen, auf einer gemeinsamen Plattform vorzustellen ... nicht mit kulturellen, sondern mit gesellschaftlich und politisch definierten Werten vorzustellen - und die horizontalen Trennlinien, horizontal trennenden gesellschaftlichen und politischen Haltungen, ernst zu nehmen.
Übersetzung: Recai Hallaç