Tanıl Bora - Der "Nationale Reflex": Die fundamentalistische Disposition des Nationalen in der Türke

Der türkische Fundamentalismus (1) ist eigentlich ein auf ständiger Existenzangst und empfundener Bedrohung basierender Nationalismus; wobei der Autoritarismus, symbolisiert durch das 1982 grundgesetzlich verankerte Prinzip des „heiligen türkischen Staates“, eine demokratische Souveränität im Sinne einer staatsbürgerlich bestimmten Besetzung des Nationalen ausschließt. Dieser Fundamentalismus bestimmt bzw. ersetzt das Nomos und erstickt jegliches Politikvermögen.

Die Angst vor der Zerstörung der Türkei - das Sèvres-Syndrom, benannt nach dem Vertrag von Sèvres, der die Aufteilung des Osmanischen Reiches regelte und eine kleine Resttürkei vorgesehen hatte - hat ihre Wurzeln in den Vortagen der Republik, also bereits in der Phase des Niederganges des Osmanischen Reiches. Aber auch im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1920 und 1923 und in der Atmosphäre des Kalten Krieges, als man die „höchst sensible geopolitische Lage“ des Landes zum Notstandsprinzip erhob, wurde die Angst vor Einkreisung und Bedrohung reproduziert. Diese nahezu obsessive Anschauung, die ständig Verschwörungspläne der Nachbarstaaten und der westlichen Mächte erblickt, bildet das Rückgrat des türkischen Nationalismus. Dieses Syndrom ist seit etwa zwei Dekaden gerade in bezug auf die kurdische Frage quicklebendig. (Bora 1995b)

Diese ideologisch und rituell reproduzierte Obsession untermauert den Autoritarismus und einen Staatskult, der in einem bestimmten Sinne die osmanischen patrimonialen Herrschafts- und Legitimationszusammenhänge in Gestalt einer modernen anonymen governmentality reproduziert. (İnsel 1999)

Die MHP (Milliyetçi Hareket Partisi/Partei der Nationalistischen Bewegung) repräsentiert die Spitze und in gewisser Weise die popularisierte Version dieser Ideologie und dieser Politik. Diese Partei/Bewegung steht seit ihren Gründungstagen - ihre Anfänge reichen bis in die Mitte der 30er Jahre zurück - in gespannter Wechselbeziehung und z.T. komplementären Verhältnis zum offiziellen Nationalismus. Die rassistisch-panturkistische Strömung, eine Vorläuferin der MHP-Bewegung und ein staatlich geförderter Abkömmling des offiziellen Nationalismus in seiner Version der Kulturnation, erlebte ihre Sternstunden in den 30er Jahren und verblaßte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. In den 50er und 60er Jahren restrukturierte sich diese Strömung, die nunmehr von der Staatselite als „rechter Extremismus“ angesehen wurde, durch die Einbeziehung religiöser Elemente auf einer konservativ-populistischen Linie. In der Periode von 1968 bis 1980, als die politische Polarisierung zu einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung eskalierte, profilierte sich die im Jahre 1965 gegründete MHP mit einem paramilitärischen Flügel und einem harten antikommunistischen Kurs. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre steigerte sich die Gewaltbereitschaft der paramilitärischen Kräfte dieser Bewegung: gezielte Attentate und zahlreiche Morde an Vertretern der Linken und an - als Kommunisten angeprangerten - Alewiten entwickelten ihre Eigendynamik und machten die MHP zu einer quasi blind um sich schlagenden Terrororganistation. Selbst den Vertretern von „Staat und Ordnung“, vorneweg den Militärs, die diese Bewegung zunächst wegen ihrer antikommunistischen Mission geduldet - und z.T. auch untergründig gefördert - hatten, erschien diese „Dosis“ zu hoch und die Unkontrollierbarkeit der Bewegung suspekt; mit dem Ergebnis, daß sich die MHP nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 vor Gericht verantworten mußte. Für die Mitglieder der MHP war dies eine große Enttäuschung. Sie fühlten sich „verraten“ und „ausgenutzt“. Diese traumatische Erfahrung, aus der Hand von Vater Staat, die sie zu küssen trachteten, geohrfeigt worden zu sein, stürzte die ultranationalistische Bewegung bis zum Ende der 80er Jahre in eine schwere Krise und marginalisierte sie politisch. (Bora 1996a und Bora/Can 1988)

Das Aufkommen der MHP

In den 90er Jahren hat sich die wiedergegründete MHP neu belebt. Bei den Wahlen 1995 kam sie mit 8.18 Prozent der Stimmen schon nahe an die 10-Prozenthürde heran, bei den letzten Wahlen im April 1999 verbuchte sie einen Rekordgewinn und brachte es auf 18 Prozent der Stimmen. Die „neue“ MHP ist heute die zweitgrößte Partei im politischen Spektrum, sie rückte ins Zentrum und strebt danach, salonfähig zu werden. Die Gründe für das Aufblühen dieser faschistoiden nationalkonservativen Partei lassen sich anhand folgender Tendenzen in der türkischen Politik folgendermaßen umreißen:

1. - Die kurdische Frage wurde militarisiert, die militärische Lösung zu einem Essential des Nationalismus gemacht, und damit die kurdische Frage aus jeder politischen Diskussion ausgeschlossen. Schon die Erwähnung der Möglichkeit einer politischen Lösung, egal was auch immer man darunter verstanden wissen wollte - einen separaten kurdischen Staat, eine Föderation, oder „nur“ eine Vervollkommnung der demokratischen Verfassung - wurde mit Untreue zum Vaterland gleichgesetzt und kriminalisiert. Citizenship, das „Türke-sein“, wurde nun mit kompromißloser Aufopferungsbereitschaft und einem totalen Engagement - um nicht zu sagen: einer „totalen Mobilmachung“ - in dieser existenziellen Frage gleichgesetzt. Bürger im Alarmzustand - solche Alarmstimmung lag völlig auf der ideologischen Linie der MHP.

2. Machte mit dieser Mobilmachung ein „Pop“-Nationalismus Furore, der sich in einer wahren Inflation von nationalistischer Rhetorik, Ritualen und Symbolen manifestierte. Ein wahrhaft exhibitionistisches Spektakel, veranstaltet um die Präsenz von Fahne, Halbmond und Stern, allgegenwärtige Atatürk [Republikgründer]-Porträts, die Landkarte der Türkei, ihre Nationalhymne; all dies hat einen banalen Nationalismus zum Bestandteil des öffentlichen Lebens gemacht. Im Verlauf dieses Prozesses hat die MHP ihr Image ein wenig modernisiert, ohne aber die Bedürfnisse ihrer provinziell-konservativ orientierten Stammkader zu mißachten. Die MHP vermengte traditionelle Elemente mit dem neuen poppigen Nationalismus und spielte sich darauf ein. Diese „Mäßigung“, die allerdings eben eher die Symbolik und das Image betraf, hat den „gefährlich“ extremistisch klingenden Ruf der MHP entschärft und dazu beigetragen, ihren essentialistischen Diskurs zu modernisieren und zu legitimieren. (Bora 1995a: 289-316)

3. - Die Bevormundung der parlamentarischen Politik durch die Militärs im Verlauf des sog. Prozesses der „Beschlüsse vom 28. Februar“ (1997), die auf Bekämpfung einer vermeintlichen islamistischen Reaktionsgefahr abzielen. Durch diese Bevormundung wurde das Parteiensystem -deutlich - entpolitisiert, wurde jegliches politisches Handeln zu einer Sache der Imagepflege und des public-relations-Geschäftes herabgestuft. Die daraus resultierende Entleerung des öffentlichen Diskurses hat die als „angeboren“ dargestellten Identitäten zum alleinigen Material der Politik gemacht - davon konnte am stärksten die MHP profitieren, die sich mit dem „Türke-sein“ synonymisierte.

4. - Nicht zuletzt die fortschreitende gesellschaftliche Atomisierung in der Türkei, die in den letzten zwei Dekaden stark durchkapitalisiert und modernisiert wurde. Überreste traditioneller Bande wurden zersetzt und der ohnehin schwache Sozialstaat erodierte. Daraus entstehende Kohäsionsverluste und Defizite im gesellschaftlichen Zusammenhalt begünstigten fundamentalistische Ideologien, die das Gefühl einer „Entschädigung“ übermittelten, einigen Menschen aber auch echte materielle Entschädigung zukommen ließen. Die Islamisten und radikalen Nationalisten sorgten für das Wiedererstehen der verlorenen Gemeinschaft - und boten nicht nur imaginären Halt in den Mythen einer muslimischen Bruderschaft oder einer gleichsam superfamiliären Gemeinschaft des (Welt-)Türkentums und Nationalstolzes, sondern auch für Halt in einem breiten Netzwerk sozialer Organisationen, deren Aktivitäten von Kulturarbeit über klientelistische Versorgungsleistungen bis in den Gesundheitsbereich reichten. Während liberale und sozialdemokratische Politik sich auf medienorientertes image-making konzentrierten und Basisarbeit für obsolet hielten, haben Islamisten und Nationalisten das populistische Terrain für sich vereinnahmt. Ihre Dämonisierung der großstädtischen, kosmopolitischen, verwestlichten, entfremdeten und verkommenen „Eliten“, die die Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf das Leid der Menschen mittels einer frivolen Medienkultur manipulieren, komplementiert durch die Verherrlichung des „einfachen Menschen“, der „authentischen Volkskultur“ und des „Einheimischen“, haben auf die Masse der Modernisierungsverlierer besonders stark eingewirkt.(Bora 1996b)

Rhetorik

Im folgenden Teil meines Vortrages beabsichtige ich, auf Aspekte der Ideologie und der politischen Strategien der MHP einzugehen.

Dabei greife ich zunächst auf einige Stich- und Schlagworte zurück, die im Diskurs der MHP-Ideologen - oder im Umfeld der MHP - mit Leidenschaft vorgebracht werden und aufschlußreich sein könnten. Als Beispiele sind u.a. folgende Phrasen zu nennen:

- „Nationaler Reflex“: Mit dieser Formulierung, die im Verfahren gegen die MHP nach dem Putsch vom 12-September-1980 als ein Argument der Verteidigung angeführt wurde, beabsichtigte man, den anti-kommunistischen bewaffneten Kampf der Partei/Bewegung als eine organische, instinktgeleitete Reaktion des gesunden Volksempfindens zu legitimieren. Diese Formel wird inzwischen von Seiten der MHP bei der Verharmlosung jeglicher nationalkonservativ legitimierter Aggression eingesetzt. Der religiös-konservativ aufgehetzte Mob, der 1993 33 Menschen in Sivas in den Feuertod schickte, bediente sich ebenfalls dieser Verharmlosung. Im MHP- bzw. im nationalkonservativen Diskurs gilt dieser Reflex eben als naturbedingt, als nicht hinterfragbar. Es sollte eben eine Selbstverständlichkeit sein, daß ein Türke, der das Türkentum oder damit verbundene moralische Werte beleidigt sieht, entsprechend reagiert. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß dieser Reflex ab und zu mal unangemessene Schäden erzeugt, so müssen diese eben aufgrund dieser fatalen Naturwüchsigkeit in Kauf genommen werden. Das „Verursacherprinzip“ agiert gegen den Reizverursacher, der Nationalgefühle verletzt und den nationalen Zorn auf sich zieht. „Reizt das Volk nicht!“ - diese Mahnung gehört unmittelbar zur Phraseologie des „nationalen Reflexes“. So werden „fremde“ oder „ungesunde“ Elemente des Volkskörpers zu großer Wachsamkeit gerufen: wenn das Volk einmal gereizt wird, und die Automatik des Nationalzorns ihren Lauf nimmt, haben sie auch von den ordinären Sicherheitskräften des Staates keine Hilfe zu erwarten. Derartige Anspielungen auf die Unkontrollierbarkeit des zynisch gleichsam als Naturkatastrophe dargestellten Nationalreflexes finden wir auch bei Massendemonstrationen, wenn etwa spontane Hinrichtungen (außergesetzliche Tötungen) durch die Polizei befürwortet werden oder lynchbereite Demonstranten sich in Zornexzessen gegen als Nationalfeind stigmatisierte Subjekte ergehen - in der Provinz kann sich das gelegentlich auch gegen Sexualstraftäter wenden. Diese Meuten (Canetti 1996: 109 ff.), die sich größtenteils in der Grauzone zwischen Polizei und örtlicher MHP-Organisation organisiert haben, terrorisieren jegliche oppositionelle Regung. Die MHP hat also die Ambition, sozusagen die nationale Bereitschaft zur Gereiztheit zu repräsentieren.

- Soviel zur Idiomatik des Nationalen Reflexes und der nationalen Bereitschaft zur Gereiztheit. Weiterhin ist eine Gefühlsäußerung anzuführen, bei der man davon schwärmt, „besessen“ von der Nation/Nationalflagge oder der nationalen Einheit zu sein, oder sich diesen Werten gegenüber wie ein „verrückter“ Liebhaber gebärdet. Diese Phrase, die zum ersten Male im Jahre 1993 vom Vizevorsitzenden der MHP im Kontext mit dem Engagement in der „Separatismus“-Frage verwendet wurde, soll die Kompromißlosigkeit der Partei/Bewegung zum Ausdruck bringen. Türkeş, der 1997 gestorbene legendäre Führer der Partei, hatte 1995 auf einem Bezirkskongreß diese Besessenheit von der Nation mit den Worten verherrlicht: „Wir sind Verrückte und Verliebte dieses Landes und dieser Nation.“ Mit derartigen Drohgebärden wird zugleich auf die Gewaltbereitschaft der Basis angespielt, die - wegen ihrer irrationalen „Verrücktheit“ - schwer zu zügeln sei. So verharmlost man auch tätliche Ausschreitungen der Basis (die man ja oft väterlich als „zu aktionistisch, zu dynamisch“ getadelt hat). Eine Irrationalisierung, Dogmatisierung der nationalen - oder nationalistisch gedeuteten - Fragen ist hier evident.

- "Liebe oder verlasse"! : Dieser Slogan -übrigens derselbe Wortlaut der amerikanischen Neofaschisten: "love or leave"-, der Mitte der 90'er Jahre von Istanbuler MHP aufgeführt wurde, ist derart populär geworden, daß er überall zu treffen ist: auf Klebebändern, oder auf Fähnchen an Autofenstern. Die Aufforderung zum "Verlassen des Landes" weist auf den exkludierenden Charakter der MHP-eigenen Nationalismusauffassung hin. Das 'Delikt', das eventuell zu dieser 'Maßnahme' führen sollte, oder die fehlende 'Essenz', die solch eine Bestrafung (Exilierung oder Ausbürgerung) rechtfertigt, ist nicht etwa biologischer oder ethnischer Natur, sondern wird aus einer Loyalitätslücke hergeleitet. Dies ist aber keineswegs eine normativ überprüfbare oder etwa verfassungspatriotistische Loyalität. Der Pseudo-'Norm' dieser Loyalität ist ein angemessener Enthusiasmus, eine leidenschaftliche Teilnahme an nationalistischer Riten, deren Maß praktisch von 'höchsten' und 'wahren' Nationalisten (also MHP'lern) festgesetzt wird. So kann das 'performance' der Landsleute in Sachen Vaterlandsliebe vonseiten der 'echten' Liebhabern jederzeit angezweifelt werden.

- „Substanzielle od. wesentliche Masse“: So etwa könnte man eine weitere Phrase übersetzen, die von vielen nationalistischen Intellektuellen seit langem verwendet wird. Mit ihr wird auf die Tugend des religiösen, staatsloyalen einfachen anatolischen Menschen (eigentlich: anatolischen Mannes) hingewiesen, der, verkörpert in der MHP, wiederum das „Wesen“ des Volkskörpers ausmache und somit die qua Geburt demokratische Mehrheit repräsentiere. Inhärent dabei ist, daß eine vollberechtigte Staatsbürgerschaft eigentlich eine Zugehörigkeit oder - wenigstens! - Respekt gegenüber der substanziellen Masse der Nation erfordert. Aus der Losung, die auf einem Transparent zu lesen war, das MHP’ler einen Monat nach den letzten Wahlen in einem Vorort Ankaras aufgehängt hatten, spricht eben ein solches ersehntes „Nationalitätenprinzip“: „Bist du Türke, sei stolz - bist du es nicht, unterwerfe dich!“ Diese pathetische Vormachtstellung in der Subjektivität des Nationalen ist mit einem Feinbild von den linken, kosmopolitischen, entfremdeten „Eliten“ gepaart. Sind es doch gerade diese Eliten, die mit ihrer volksfremden westlichen Politik die „wesentliche Masse“ der türkischen Nation politisch, sozial und kulturell verdrängt und mundtot gemacht haben sollen. (Diese Ablehnung nimmt im „linksfaschistischen“ Diskurs der MHP-Bewegung auch anti-kapitalistische bzw. anti-plutokratische Züge an.) Diese selbstgewählte Martyrerposition hatte schon in den 60er Jahren in den schwermütigen Versen des nationalkonservativen Poeten Necip Fazıl ihren Ausdruck gefunden: „Einsam im eigenen Vaterland / Paria in der eigenen Heimat.“ Besonders die radikale Jugendbewegung der MHP hat sich immer als Aufbegehren gegen Bedrückung, gegen die Degradierung der „Volkssubstanz“ dargestellt. Die nationalistisch geprägte Religiosität und Frömmigkeit des einfachen anatolischen Menschen wird in diesem Rahmen als Substanz der „wesentlichen Masse“ gerechnet; somit können Reaktionen sowohl gegen „ketzerische“ Elemente, als auch gegenüber dem universalistisch/internationalistisch definierten radikalen Islamismus, nationalistisch umfunktioniert und essentialisiert werden. (Bora 1998)

Aktion

Ich werde nun auf charakteristisches in der politischen Mobilisierung und auf die „Strassenauftritte“ eingehen, die ein latentes faschistioides und gewaltorientiertes Potential erkennen lassen. Dabei sollte man sich darüber im Klaren sein, das die hier dargelegten Beispiele Erscheinungen der alltäglichen und banalen Nationalismus in der Türkei sind, die zwar hauptsächlich von MHP/MHP'lern initiiert und als „reflex-“ oder „instinkthaft“ präsentiert und legitimiert werden - die aber auf über eine weitaus breitere Basis haben. Insbesondere Medien erfüllen dabei eine wichtige Funktion als Brandstifter und „Multiplikator“. Also ist über einen aus der Zivilgesellschaft stammende Gewaltpotential oderç -lust nicht hinwegzusehen. Die normalisierende Wahrnahme solcher Gewaltausbrüche oder Gewaltdrohungen anhand des "Volkzornes" -das wiederum mit der 'berüchtigter' Neflex-These gut vereinbar ist- läßt sie sogar in vielen Fällen nicht als gewalttätig erscheinen, sondern als "demokratischer Protest" vertragen - und zwar nicht nur in der 'strukturierten' Öffentlichkeit, sondern auch in der Allgemeinheit. Dieser Normalisierungsstrategie vonseiten der status quo-Kräfte lag auch das Kalkül inne, daß man somit das Ventil dieses -als naturgegeben gesehenes- Gewaltpotentials handhaben könnte. Anschließend wäre noch zu argumentieren, daß die MHP hinsichtlich dieser allgemeiner und öffentlich -wie auch staatlich- akzeptierter Normalisierung der Gewaltexzesse und -drohungen eigentlich einen niedrigen Führungsanspruch aufweist und als praktizierender Faktor profiliert, so daß sie von ihrer faschistischer Qualität erhelbiches einbüßt!

Folgende Fallbeispiele sind in diesem Kontext anzuführen:

- Im Zusammenhang mit der Gewaltbereitschaft und „Performance“ der MHP-Bewegung auf der Straße bildet die Mobilisierung gegen die „Separatisten“, sprich: die Kurden, zweifellos den kritischen Punkt. In den 90er Jahren bildete ja die Alarmbereitschaft und das totale Engagement gegen den Separatismus den Brennpunkt der MHP-Politik, der ihren Wiederaufstiegermöglichte. Besonders in der Zeitspanne 1991-1995 - also zeitgleich mit dem Boom der PKK-Aktionen manifestierte sich diese Mobilmachung in provokanten Demonstrationen, die mancherorts in direkte Aggressionen gegen kurdische Bevölkerungsteile mündeten. Ein paar Beispiele: Im September 1992 kam es in Fethiye und Turgutlu (Kleinstädte in der Ägäis-Region im Westen der Türkei) zu Tätlichkeiten gegen kurdische Gruppen, überwiegend Arbeitsmigranten, die schließlich zum Verlassen der Orte gezwungen wurden. Im November 1993 wurde die Übersiedlung sieben kurdischer Migrantenfamilien nach Tavas (ebenfalls eine Kleinstadt in der Ägäis-Region) durch heftige Proteste verhindert. Im November 1992 wurden die Geschäfte einiger Kurden in Alanya zerstört und man trachtete danach, deren Besitzer zu lynchen. Im März 1995 wurden in Erdemli (einer Kleinstadt am Mittelmeer) einige Häuser und Geschäfte von Kurden zerstört. Es ließen sich noch weitere Beispiele nennen. Typisch für solche Aggressionen war, daß sie auf dem Höhepunkt der PKK-Aktionen oder anläßlich von Begräbnissen ortsansässiger Soldaten erfolgten - manchmal aber auch einfach nur ausgelöst wurden aufgrund alltäglich normaler, „ziviler“ Konflikte zwischen Türken und Kurden. (Kılıç 1992) Derartige Provokationen, bei denen man mit Anti-PKK Parolen gegen Kurden vorging, egal, ob diese die PKK unterstützten oder nicht, wurden zumeist von örtlichen MHP-Kadern angestiftet. Sie fanden aber unter aktiver Teilnahme der Bevölkerung statt und wurden von seiten der Behörden - bis an die Grenze der Lynchjustiz!- geduldet. Weitaus gefährlicher als diese anti-kurdischen Aggressionen war die Stimmung in der ostanatolischen Stadt Erzurum im Oktober 1993, als 15.000 Menschen, die zum Protest gegen die Morde der PKK aus Dörfern dieses Bezirks zusammengekommen waren, in das kurdische Stadtviertel marschierten. Nur mit Mühe konnte die aufgebrachte Masse von der Armee, durch beruhigendes Einreden eines hochwürdigen einheimischen Glaubensmannes und einige MHP-Abgeordnete aufgehalten werden.

Bleibt anzumerken, daß diese Aggressionen in keinem Fall bis zur letzten Konsequenz aufgestachelt wurden; also daß, obwohl die Alltagsbeziehungen zwischen Türken und Kurden beträchtlich getrübt und so etwas wie eine „zivile“ Feindschaft geschürt worden war, keine "volle" Bürgerkriegsatmosphäre zustande gekommen ist. Wenn man die gängige - und objektiv wohl nicht völlig unsinnige - These der Verzahntheit der türkischen und kurdischen Völker einmal beiseite läßt, muß man bei der Analyse der Motive der MHP und ihrer Herangehensweise zunächst ihre ideologische Ambivalenz in der Kurdenfrage unterstreichen. Während an der MHP-Basis einerseits durchaus eine Stimmung rassistischer Diskriminierung und offener Feindseligkeit gegen die Kurden zu verzeichnen ist, stimmt die MHP verbal und auf ihrer Führungsebene mit dem offiziösen Nationalismus überein, der eine assimilatorische Vision beinhaltet, bei der die Kurden mit ihrer ethnischen Identität nicht als „niedrige Rasse“ betrachtetwerden, die versklavt oder vernichtet werden müssen, sondern schlichtweg geleugnet, also gar nicht (oder allenfalls als eine Sub-Identität) akzeptiert und damit dem Türkentum - also der Kulturnation - einverleibt werden. (Yeğen 1999) Diese Assimilationsideologie verbietet „eigentlich“ eine diskriminierende Haltung gegenüber den Kurden, die ja vermeintlich nicht existieren! So wird offiziell immer beschworen, eine sorgfältige Trennung zwischen den Separatisten und der „heimischen Bevölkerung“ bzw. den „kurdischstämmigen Türken“ vorzunehmen. Die von MHP'lern entwickelte und halboffiziell übernommene Verschwörungstheorie, nach der die PKK eine unter Kontrolle westlicher Mächte von den Armeniern organisierte Bande (und ihr Führer Abdullah Öcalan ein geborener „Agop Artinyan“) sei, in dem man also PKK'ler mit „Armeniern“ gleichsetzt, dient der Auflösung dieser Ungereimtheit. (Die Gleichsetzung von Armeniern und PKK kriminalisiert zum einen die kleine armenische Gemeinschaft in der Türkei in ganz eklatanter Weise. Andererseits ist sie wohl auch eine unterschwellige Anspielung auf den Massenmord - oder offiziell den Exodus - der Armenier, deren mahnendes Schicksal die Kurden einschüchtern soll.) Fazit ihrer ideologischen und realpolitischen Befürwortung der Assimilationsthese des offiziellen Nationalismus und der staatlichen Politik war für die MHP, daß sie von offen feindseligen Übergriffen auf Kurden Abstand nehmen mußte. Man kann durchaus konstatieren, daß das Schaukeln zwischen Aggressionen gegen kurdische Bevölkerungsgruppen und deren Zügelung ein beständiger Teil staatlichen Krisenmanagements und der Politik der MHP gewesen ist. Von Seiten der Medien und der Staatselite ist die MHP in emotionaler Art und Weise wegen ihres energischen Engagements gegen die separatistische Gefahr, und für ihre „gemäßigte“, „weise“ Führung, die diese - größtenteils selbsterzeugte! - Dynamik gezügelt hat - und es nicht zu Massakern und zum Bürgerkrieg kommen ließ -, gelobt worden. Dieses Lob beinhaltete einen Verweis auf die paramilitärisch agierende MHP der Jahre 1977-80, die zahlreiche politische Attentate und Morde ausgeführt hat. Der Verzicht auf eine derartige Strategie wurde ausreichendes Zeichen für die Salonfähigkeit dieser Bewegung gedeutet, und legitimiert ihre faschistoide Politik. Schlimmer ist, daß die nationalistische Mobilisierung und deren Exzesse damit als naturbedingt und selbstverständlich angesehen werden. Die Auffassung vom „nationalen Reflex“ wird hiermit stillschweigend übernommen und man schreibt der MHP, die diese Flutwelle angestoßen hat, gleichzeitig die Rolle eines Deichgrafen zu der diese Gefahr aufhalten soll.

Zum großzügig gelobten Verzicht der MHP auf paramilitärische Organisation ist an dieser Stelle noch anzumerken, daß die sog. militärischen Spezialeinheiten, die Sonderkommandos, die wegen ihres grausamen Handelns im Kampf gegen die PKK berüchtigt waren und dabei auch die „heimische Bevölkerung“ nicht schonten, größtenteils aus MHP-Kadern und -Sympathisanten rekrutiert wurden. Ihr martialisches Auftreten mit Schnurrbart im Stil der MHP, mit den drei Halbmonden des Parteisymbols oder dem Grauen Wolf, hat mit Recht zu der Aussage geführt, daß der paramilitärische Aktion dieser Bewegung praktisch in staatlichen Dienst gestellt worden sei. In den Jahren 1997/98 - als die Militärs sowohl im Krieg als auch in der Innenpolitik die Initiative ergriffen hatten - hat man diese Spezialeinheiten, der Korrumpierbarkeit und ideologisch-politische Befangenheit mehrmal offenkundigworden war, personell ausgedünnt und in ihren Kompetenzen beschnitten. Unter Hinweis auf die „nationalistischen“ Spezialeinheiten und ihren unerbittlichen militärischen Kampf gegen den Separatismus haben MHP-Ideologen gefolgert, daß der „Nationale Reflex“ - anders als in den 70er Jahren im Kampf gegen die kommunistische Bedrohung - seine Resonanz im Staat gefunden habe und daß die nationalistische Bewegung - deren „historische Legitimität“ nun bewiesen worden sei - sich unter diesen Umständen nicht genötigt sehen müsse, selbst tatkräftig einzugreifen. 2

Die energische Unterstützung der Streitkräfte, wobei man auch die Applaudierung -von vor Ort angesammelter MHP-treuen Menschenmengen auch im wörtlichen Sinne praktiziert- der Polizeieinheiten nach spontaner Hinrichtungen angeblicher "Terroristen" einbeziehen sollte, trägt sicherlich auch der Normalisierung der Gewalt -haputsächlich staatlich monopolisierter Gewalt- bei.

- Ende vergangenen Jahres bildete die Protestwelle gegen Italien, das wegen der Beherbergung des PKK-Führers Abdullah Öcalan der Unterstützung des Terrorismus beschuldigt wurde, einen Höhepunkt in der nationalistischen Mobilmachung. Ohne juristische und völkerrechtliche Situation zu bedenken, allein schon die Tatsache, daß Öcalan nicht sofort an die Türkei ausgeliefert wurde, reichte als Beweis für die Erz-Feindschaft Europas und des Westen gegenüber den Türken. Eine von der Regierung und den Medien forcierte Kampagne, in der dieses Ressentiment gegen Italien kondensierte - das bis dahin nicht zu den etablierten Feindbildern des türkischen Nationalismus zählte -, entlud sich in Demonstrationen, die hauptsächlich von MHP-Kadern aufgehetzt waren. Diese kollektive Entfesselung zerstörerischer Triebe mündete in einer Orgie, in der es darum ging, alles „italienische“ zu zerschlagen. Wir wurden Zeugen allerlei „vandalistischer“ und „pubertär-machistischer“ Gesten. Einige Beispiele: Demonstrativ wurden italienische Krawatten, Schuhe, Hemden verbrannt, selbst Kühlschränke wurden zertrümmert. Lehrbücher über „Römisches Recht“ gingen in Flammen auf; aus Italien importierte Orangen wurden zertreten; der Vorsitzende einer Innung rief zum Boykott von Frisuren im italienischen Stil auf; ein Cafè in Ankara verkündete lautstark, daß man keinen Cappuccino und Espresso serviere! Die besorgniserregendste Seite dieser Protestwelle, bei der sich die formierte Öffentlichkeit in quasi heiterer Kriegsstimmung und faschistoider Meuterei ungefähr eine Woche lang austoben konnte, und die staatlicherseits erst gezügelt wurde, als der Grad zum Extremen überschritten wurde, war, daß sie sich zum Teil über kurdischen Gruppen entlud. Die vorher erwähnte permanente Drohung mit der Lynchjustiz 3 wurde bitterer Ernst, als aufgehetzte Gruppen - wiederum hauptsächlich Anhänger der MHP - in die Parteibüros der HADEP stürmten, um die Leute zu lynchen, die dort angeblich für die Freilassung von Öcalan einen Hungerstreik durchführten. (Eigentlich ging es bei diesen Hungerstreiks um die Verbesserung der Haftbedingungen von der PKK'lern, sie waren schon vorher angekündigt worden.) Diese Attacken, gegen die die Sicherheitkräfte nicht ernsthaft einschritten, kosteten drei Menschen das Leben. Kurzum, diese furchtbare „italienische Woche“ können wir als ein Moment des Faschismus deuten, bei der staatlicher Nationalismus, die Gewaltbereitschaft der MHP-Bewegung und Motive des Alltagsfaschismus als mobilisierende Faktoren zusammenwirkten.

- Die politische Instrumentalisierung der Angehörigen der „Märtyrer“, also jener Soldaten, die im Krieg im Südosten, im kurdischen Gebiet bzw. im „Kampf gegen Terroristen“ gefallen sind, spielte eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung und Legitimierung der MHP. Sie hatte für die nationalistische Essentialisierung der kurdischen Frage eine wichtige symbolische Funktion. Seit Anfang der 90er Jahre nahmen örtliche MHP-Kader stets und überall an den Bestattungsfeierlichkeiten für gefallene Soldaten teil, die per se mit tiefen religiösen Gefühlen besetzt sind. Die MHP sorgte mit ihrer Präsenz dafür, daß diese Trauerfeiern zu nationalen Exzessen der Trauer und des Zornes ritualisiert wurden. „Märtyrer sind unsterblich / Das Land ist unteilbar“ wurde zur wichtigsten Parole der MHP-Jugend. Später haben sich die Angehörigen von Märtyrern in Vereinen organisiert, die größtenteils unter Einfluß MHP-Diskurses standen. Schließlich traten Angehörige von Märtyrern auch im Strafverfahren gegen Öcalan auf; sie wurden als Nebenkläger am Prozeß beteiligt. Das Leid der Väter und - noch emotionsbeladener - der Mütter wurde im MHP-Diskurs, der in Grundzügen auch vom offiziösen Nationalismus übernommen wurde, als schwerwiegende Trauer instrumentalisiert, die jedes Argument ersetzte und obsolet machte. Der Kriegszustand oder „das Problem im Südosten“ wurde praktisch dadurch als Angelegenheit von reinen Rache- und Vergeltungsgelüsten behandelt. Ihr enthusiastische Auftritt im Öcalan-Prozeß war eine Versuchung, den Gerichtsprozeß in einen Akt von Rache und Vergeltung umzuwandeln, und die Menschenrechtsprinzipien vom Prinzip der Gegenseitigkeit abhängig zu machen und zu relativieren. Die „Rechte“ der verzweifelten Märtyrermütter wurden in diesem demagogischen Diskurs wie ein Gegengift gegen die „vermeintlichen Menschenrechte von Terroristen“ gehandelt. Dabei sieht man darüber hinweg, daß die Leiden der Märtyrermütter, die man auf der einen Seite provozierend zur Schau stellt, auf der anderen Seite praktisch bedeutungslos erscheinen, indem man ihre Verluste als Märtyrertum religiös verherrlicht und sie mit Aussagen wie „ich habe weitere zwei Söhne, ich opfere sie ohne zu zögern für den Staat und die Nation“ zum Normalfall macht. Die Verherrlichung des Märtyrertums ist wichtiger symbolischer Bestandteil für die Reproduktion der nationalistischen Opferbereitschaft, die ein Menschenleben und den Tod nebensächlich erscheinen läßt.

- Spiele der Fußball-Nationalmannschaft und die Teilnahme türkischer Mannschaften an internationalen Tournieren bilden einen Knotenpunkt, an dem der „banale“ Alltagsnationalismus mit der Ideologie der MHP verknüpft wird. Bei diesen Fußballbegegnungen wird die zwiespältige Gefühlshaltung gegenüber „Europa“ augenfällig. (Kozanoğlu 1999) Einerseits ist die Tendenz, den europäischen Fußball zu bewundern, hochzuachten und zu idealisieren, und die Zugehörigkeit zu dieser Fußballwelt zu ersehnen, in der Fanszene sehr verbreitet. Im inländischen Wettbewerb strebt man nach der Teilnahme an den Europacups, hin und wieder verspotten sogar Anhänger der Spitzenmannschaften die heimischeLiga, werden hervorragende Tore als „Tor nach europäischem Stil“ bejubelt. Auf der anderen Seite wird die feste Überzeugung oder zumindest ein „starker Verdacht“, daß sich Europa in immerwährender Feindschaft, in einer verräterischen, hinterlistigen Haltung gegenüber Türkei und den Türken befände und von einem Ausgrenzungswillen gegen die Türkei/„die Türken“ beseelt sei, direkt auf die Fußballszene übertragen. Selbst Institutionen des Fußballs agieren dieser Auffassung gemäß von einer Erzfeindschaft beseelt: Schiedsrichter werden als parteiisch, und vorurteilsbeladen gegenüber Türken denunziert; auch die UEFA verdächtigt man häufig, an einem Komplott gegen türkische Mannschaften beteiligt zu sein. Diese feste Überzeugung von einem Frontverlauf zwischen Europa und der Türkei hat ihre Wurzeln aber hauptsächlich außerhalb der Welt des Fußballs; was nationale Fußballenthusiasten und auflagenstarke Sportmedien nicht davon abhält, die Neigung, nach Vergeltungsmöglichkeiten gegen den "Westen" im Fußball zu suchen und „Siege“ genüßlich als Ersatzbefriedigung zu feiern. Solcherlei Tendenzen, die nach dem Putsch vom 12. September 1980 bereits im Verlauf der Isolierung des Militärregimes sichtbar geworden waren, verstärkten sich in den 90er Jahren deutlich und zwar parallel zur Eskalation und der Internationalisierung der kurdischen Frage. Europacupspiele des Spitzenklubs Galatasaray gegen Eintracht Frankfurt, die in einer Ära stattfanden, in der Deutschland vom türkischen Nationalismus der Komplizenschaft mit der PKK beschuldigt wurde, dienten als Vehikel zu dieser neuen Stufe. Der schallende Schlachtruf bei diesen Begegnungen war „Die PKK und Deutschland Schulter an Schulter / und die Türkei wird beiden Schweinen drauflegen“ (angemerkt sei, daß der Cheftrainer und zwei Spieler von Galatasaray Deutsche waren!). Ein anderer Schlachtruf, „Europa, Europa / hör' unsere Stimme / Fußtritte von Galatasaray oder: von den Türken sind das!“, erschallte ebenfalls nach diesen Spielen und hat sich seitdem als „halboffizielle“ Hymne bei internationalen Begegnungen türkischer Teams erhalten. Noch ein Nachtrag zum ersten Schlachtruf: Daß die Türkei den beiden Schweinen eins aufsetzen werde, ist eine zweideutige Formulierung, deren sexuelle Konnotation die starke Dominanz von „Männerphantasien“ (Theweleit 1995) verrät. Männerphantasien und die herbeigewünschte „Verweiblichung“ des Gegners finden wir überall in der Fußballkultur. Auffällig im türkischen Zusammenhang ist jedoch, daß diese Motive besonders stark mit nationalistischer Symbolikbeladen sind. Die Sportpresse titelt vor und nach internationalen Matchs mit Schlagzeilen, in denen Gegner in burschenschaftlicher Manier als „weich“, unmännlich oder Weibsbilder dargestellt werden - meist mit ähnlich zweideutigen Ausdrücken, in denen solche Phantasmen oder „Heldentaten“ von „eins drauflegen“ und simpel gesagt Vergewaltigung mitschwingen. Nach dem Spiel Galatasaray/Manchester United (1993) wurde es auch zum Ritual, daß Fans nach Fußballsiegen skandierend durch die Straßen ziehen und stundenlange Autokorsos veranstalten - nicht nur am Ort des Spieles, sondern überall dort, wo „Türken leben“. Bei solcherlei quasi karnevalistischen Nationalexzessen kam es vor, daß Männer zu ihren Schusswaffen griffen und bei Salutschüssen Menschen „versehentlich“ ums Leben kamen oder verletzt wurden. Später bürgerte es sich ein, nicht applaudierende Passanten zu beschimpfen („bist du etwa PKK'ler und so?“) und zum Mitsingen der Schlachtrufe oder der Nationalhymne zu zwingen. Das Absingen der Nationalhymne wurde übrigens ab Mitte der 90er Jahre zum Bestandteil der Eröffnungszeremonie bei inländischen Spielen (selbst in der Dritten Liga, wo allenfalls ein paar Hundert Leuten zum Spiel erscheinen!). Das Singen der Nationalhymne haben anfänglich MHP-Kadern eingeführt, die gegen Mitte der 90er Jahre die Fußballstadien zur Stätte ihrer populären Unterwanderungsstrategie gemacht haben. Jugendgruppen der MHP zogen in die Stadien, um ihre Pamphlete zu verteilen, ihre Parteifahnen zu schwenken und, die Hand zum Gruß des Grauen Wolfes gereckt, die Nationalhymne zu singen. Obwohl ihre übertriebenen - manchmal auch gewalttätigen - Auftritte bei den „normalen“ Fußballfreunden auf ablehnende Reaktionen stießen, hat das Auftreten dieser Gruppen in den Stadien erheblich dazu beigetragen, daß ihre inhaltlichen und symbolischen Materialien als fester Bestandteil des Fanartikel- und Popkultur-Arsenals etabliert wurden - z.B. der Graue Wolf, der lange Zeit einen „fanatischen“ Anhänger verriet, gilt jetzt als etwas unparteiisches, eben rein „türkisches“ Symbol. Die MHP-Gruppen haben - neben ihrem erheblichen Beitrag zur extremnationalistischen Aufladung der Fußballszene - auch bei der Verbreitung der latent gewalttätigen, karnavalesk anmutenden Siegeszüge nach internationalen Fußballspielen eine Rolle gespielt.

Schlußbemerkung

Es besteht eine eindeutige Konvergenz zwischen dem offiziellen türkischen Nationalismus und der ultranationalistischer MHP-Bewegung, die in den letzten zwei Dekaden, worin einen neuen Schub des nach innen gerichteten Mobilisierungsnationalismus zu erfahren war, ausdrücklich profitiert hat. Neben ideologischer Verwandheit ist hierbei auf staatszentriertes Denken und machtpolitisches Kalkül der MHP Aufmerksamkeit zu schenken, die Ideologisches gleichsam 'nebensächlich' macht. Ein 'harter Kern' der Doktrin ist zwar existent, aber eine 'performative', auf 'spectacle' und Symbolik geklammerte Herangehensweise ist bezeichnender für diese Partei u. Bewegung. Diese Eigenschaft ist typisch für faschistische Politik, die Argumentation und Deliberation mit 'Aktionslust' und lauthalsigen Schlagwörtern ersetzt. Aber man sollte in Betracht ziehen, daß der typisch-faschistische Aspekt der MHP eben durch sein staatszentriertes Denken und machtpolitisches Kalkül relativiert wird. (Symmetrisch dazu wird andererseits das Regime durch klientalistische Mechanismen von faschistioiden Kräften und Diskurselementen unterwandert.) Gewalttätige oder mit Gewalt drohende Praxis übernimmt mit ihrer kohärierender, gemeinschafts- und auch Feinde-stiftender, habitualiserender und nicht zuletzt auch amüsierender Funktion die Rolle inkonsistenter Ideologie. Daß ihre Gewaltbereitschaft sich eher 'verbal' ausdrückt, wenigstens praktisch hinter ihres verbalen Ausmaßes zurückfällt -zum Glück, würde ich wohl hinzufügen, so daß die schlimmsten Gewaltausbrüche unter staatlicher 'Aufsicht' (mal fördernd, mal dämmend, mal sogar -wie im Fall der "Spezialeinheiten"- offiziell einsetzend) stattfinden, ist auch anhand dieses Charakterzugs zu erfassen. Es wäre aber wiederum stark vereinfachend, die MHP als ein 'Vehikel' staatlicher nationalistischer Politik zu begreifen. Die Eigendynamik dieser Bewegung ist mit solchen Verschwörungstheorien nicht zu übersehen - die MHP ist 'echt' -natürlich nicht im o.g. essentialistischem Sinne-, fußt auf 'realexistierende' Triebe, und findet Gefallen an großen Teilen der türkischen Gesellschaft. So wäre es betreffender, eine bestimmte Symbiotik des türkischen Nationalismus als Staatsideologie und der MHP zu konstatieren. Und diese Symbiotik hält einen Spannungsverhältnis zwischen Eindämmung, Einverleibung und Unterwanderung bzw. Expansion faschistioider Faktoren in der türkischen Politik aufrecht.

Fußnoten
1 Damit sei auf die Frage Cornelia Klingers hingewiesen: "Faschismus - der deutsche Nationalismus?". Klinger 1992: 782.
2 Überhaupt spielt die Unterwanderung der Polizeikader (und allegemein der Bürokratie) eine gewichtige Rolle in der Machtstrategie der MHP. Dies macht sie auch sensibel für den Einfluß staattragender Eliten und abhängig von Strukturen klientelistischer Politik.
3 Hervorragende Essays über die herrschende Atmosphäre der Lynchbereitschaft in der Türkei gegen Ende der 1990'er Jahre: Türker 1998.

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